Blick in den Pistolenlauf

Jeden Tag werden Handelsunternehmen überfallen – immer häufiger auch mit Waffengewalt. Die Opfer sind oft traumatisiert und lange krank. Präventionsmaßnahmen helfen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten.

 

„In den Lauf der Pistole zu blicken, war für mich der schrecklichste Moment. Ich fühlte mich machtlos und dachte nur an meine Tochter, wie sie ohne mich zurechtkommen soll.“ Christine G., alleinerziehende Mutter, war bis zu einem Überfall vor anderthalb Jahren als Verkäuferin in einer Drogeriefiliale beschäftigt. Ständig wiederkehrende Schweißausbrüche, durchwachte Nächte und ein latentes Angstgefühl haben sie so stark mitgenommen, dass sie sich nicht mehr im Stande sah, weiter zu arbeiten – Anfang 2006 beantragte sie die Rente.

 

Die Geschichte der Christine G. ist kein Einzelfall: Jeden Tag werden Handelsunternehmen überfallen, immer öfter greifen die Täter dabei zur Waffe. Zurück bleiben traumatisierte Mitarbeiter, die den Schock häufig alleine verarbeiten müssen. Die Opfer sind oft lange krank, im schlimmsten Fall werden sie auf Dauer arbeitsunfähig – wie bei Verkäuferin Christine G. 

 

Laut der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel (BGE) bekamen im Jahr 2004 67 Personen die Berufsunfähigkeitsrente auf Grund von Überfällen zugesprochen – 1995 lag diese Zahl noch bei 44. Insgesamt wurden der BGE etwa 1.000 meldepflichtige Raubüberfälle angezeigt, die einen Arbeitsausfall von mindestens drei Tagen zur Folge hatten. „Das erscheint im Vergleich zu den insgesamt 52.000 meldepflichtigen Arbeitsunfällen der BGE keine besonders hohe Zahl“, sagt Marita Klinkert, Leiterin des Referats Rehabilitation- und Leistungsrecht der BGE in Bonn. „Doch während die Zahl der Arbeitsunfälle in den letzten Jahren zurückgegangen ist, ist die Zahl der gemeldeten Raubüberfälle gestiegen“.

 

Nach Beobachtung von Heinz-Hermann Oberzier, stellvertretender Leiter des Präventionsdienstes der BGE, hat die Gewaltbereitschaft bei Überfällen drastisch zugenommen. „Die Täter gehen immer brutaler vor. Mittlerweile gibt es kaum noch einen Überfall, der ohne Waffe durchgeführt wird.“ Dabei zählt laut Oberzier der Lebensmittelhandel zu den meist betroffenen Branchen. Drogeriemärkte, Kioske und Tankstellen sind ebenfalls stark gefährdet.

 

Alarmiert durch diese Entwicklung hat die BGE ihre Aktivitäten im Bereich Überfall-Prävention und Nachsorge intensiviert. Anfang 2005 wurde ein Modellprojekt zur Erstbetreuung und psychologischen Soforthilfe nach Überfällen ins Leben gerufen. „Die Folgen eines Überfalls für Betroffene werden häufig unterschätzt, da in den meisten Fällen keine äußeren Wunden sichtbar sind. Doch die Bedrohung kann zu schweren Traumatisierungen führen“, erläutert BGE-Mitarbeiterin Klinkert. Eine schnelle Beratung ist wichtig: Geht eine Meldung bei der Berufsgenossenschaft ein, setzt sie sich in der Regel noch am selben Tag mit Kooperationspartnern in Verbindung, die wiederum mit den Betroffenen telefonisch in Kontakt treten.

 

In einem nächsten Schritt wird ein persönliches Gespräch angeboten, dass die langfristige Stabilisierung der Betroffenen zum Ziel hat. In einer dritten Stufe erfolgt eine meist telefonische Nachbetreuung. „Die Beratung ist freiwillig“, betont Klinkert. Bewusst werden Vokabeln wie psychologische oder therapeutische Beratung vermieden, um möglichen Vorbehalten der Überfallopfer entgegenzuwirken. Bislang wurde das Angebot von etwa 45 Prozent der Betroffenen in Anspruch genommen.

Neben der BGE wirbt auch die Polizei seit Jahren für Präventionsmaßnahmen zum Schutz vor Kriminalität. Um die Beratung zu vereinfachen, entstehen in immer mehr deutschen Städten Beratungsstellen, die den Kontakt mit der Polizei erleichtern. So etwa in Mainz: 2006 eröffnete die Polizei im Herzen der rheinland-pfälzischen Hauptstadt eine neue Anlaufstelle. Ratsuchende können sich entweder individuell im Beratungszentrum informieren oder an regelmäßigen Seminaren teilnehmen. „Auf Wunsch besuchen wir das Unternehmen und klären vor Ort, welche Maßnahmen sinnvoll sind,“ erklärt Rolf Ebeling, Direktor der Polizei in Mainz.

 

Laut Polizeichef Ebeling lohnt es sich, in Sicherheitstechnik zu investieren. „Die Sicherungsmaßnahmen sprechen sich schnell in Täterkreisen herum und wirken oft abschreckend“, erklärt Ebeling. Auf der anderen Seite führt es jedoch auch dazu, dass sich die Täter auf kleinere, personalschwache, weniger gut gesicherte Geschäfte konzentrieren.

 

Trauriger Rekordhalter in diesem Sektor ist die Drogeriemarktkette Schlecker. Nach Angaben der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wird beinahe täglich mindestens eine Filiale des Drogerie-Discounters überfallen, weil „sowohl an Personal als auch an Sicherheitsvorkehrungen gespart wird“. Schon lange steht Verdi deshalb mit der Geschäftsführung von Schlecker auf Kriegsfuß. Die Gewerkschaft hat einen umfassenden Katalog zur Verbesserung der Sicherheit vorgelegt. Dieser beinhaltet zum Beispiel die Forderung nach einer Mindestbesetzung von zwei Beschäftigten in der Verkaufsstelle und die Einrichtung von freigeschalteten Telefonen im Verkaufsraum. „Leider hat sich die Geschäftsführung von Schlecker noch nicht bewegt“, klagt Agnes Schreieder, bei Verdi für den Bereich Discounter verantwortlich. „In Berlin wurden zumindest die anachronistischen Standards bei der Tresor-Technik punktuell verbessert“, sagt die Gewerkschafterin.

 

Doch es gibt auch viele positive Beispiele im Einzelhandel: Bei der Rewe-Gruppe etwa wurden die Außendienstmitarbeiter verpflichtet, im Ernstfall alles stehen und liegen zu lassen und sich sofort den Opfern eines Überfalls zu widmen. Betroffene werden persönlich betreut und auf Wunsch sofort von der Arbeit freigestellt. Nach einem festgelegten Notfallplan werden weitere Stellen von dem Vorfall informiert.

Unterstützung bei der Entwicklung von Notfallplänen liefert hier HumanProtect Consulting. Das Institut, eine Tochter der R+V Versicherungen mit Sitz in Köln, ist auf Präventionsmaßnahmen und psychologische Betreuung nach Überfällen spezialisiert und war bereits in einigen drastischen Fällen tätig – etwa in der Betreuung der deutschen Terroropfer des 11. September in New York, dem Terroranschlag in Djerba, dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt oder bei der Tsunami-Katastrophe in Südostasien. „Im Zentrum steht immer das seelische Gleichgewicht der Opfer und die Verhinderung psychischer Langzeitfolgen“, erklärt die Diplom-Psychologin Karin Clemens, stellvertretende Geschäftsführerin von HumanProtect. 

 

Wer sich auf den Ernstfall vorbereitet, hat es bei der Traumabewältigung leichter. „Wir klären viele wichtige Fragen, wie zum Beispiel: Was ist ein Trauma, welchen Verlauf hat es, wie lange dauert es, welche Symptome kommen zum Vorschein?“ Darüber hinaus werden Stabilisierungstechniken trainiert sowie Verhaltensempfehlungen gegeben, und zwar für die Zeit vor, während und auch nach einem Überfall. Das Institut informiert auch über Maßnahmen zur psychologischen Ersten-Hilfe und gibt Empfehlungen zum Selbstschutz.

Ein weiterer Anbieter ist die in Sankt Augustin ansässige Trauboth Risk Management GmbH. Das Institut berät Banken und Unternehmen der Lebensmittelindustrie und des Lebensmittelhandels. „Während des Trainings für Unternehmen vermitteln wir eine psychologische Grundlage für das Verhalten in einer Überfallsituation“, sagt Jörg H. Trauboth, geschäftsführender Gesellschafter und seit 2004 Präsident der Europäischen Akademie für Krisenmanagement (EAKM) in Wien.

 

„Darunter fallen Angst- und Stressmanagement sowie Bewältigungsmechanismen, praktische Verhaltenstipps in einem Überfallszenario, Hilfestellung zum Erkennen von potentiellen Tätern und der Umgang mit Tätern“. Auf Wunsch gehen Psychologen detailliert auf Tätertypologien, -verhalten und -motivation ein. Oft wird die Polizei oder Führungspersonal des Unternehmens in die Schulung mit eingebunden.

Die Kölner Ofischer Academy legt dagegen Wert auf erlebnisorientiertes Lernen bei der Überfall-Prävention. Das Angebot richtet sich primär an Filial- und Franchisesysteme. „Unsere Schulungen werden nur in Form von Inhouse-Kursen vermittelt“, erklärt Dr. Frank Przybylski, Leiter der Akademie. Das Institut arbeitet mit einem Netzwerk von über 180 Trainern zusammen. Przybylski betont, dass die Trainings von kurzem theoretischem Input geprägt sind. „Zirka 80 Prozent der Zeit agieren die Teilnehmer“, erklärt der Trainer. „Sie erarbeiten gemeinsam mit dem Ausbilder das jeweilige Thema und werden nicht nur durch eine Folienpräsentation berieselt.“ Am Ende, so Przybylski, stehen oft konkrete Maßnahmen wie Checklisten oder Prozessbeschreibungen.

 

Die Teilnehmer werden für den Umgang mit Tätern geschult. „Natürlich ist der eine oder andere versucht, dem Täter die Waffe zu entreißen, weil man glaubt, ihm gewachsen zu sein. Doch davon muss man sich verabschieden“, rät Przybylski. „So schwer es auch fällt, es gilt, Ruhe zu bewahren. Man muss versuchen, den Schaden auf die materielle Ebene zu begrenzen.“ Mitarbeiter sollen im Kopf auf diese Stresssituation vorbereitet werden.

 

Hätte Christine G. im Vorfeld an einer Präventionsmaßnahme teilnehmen können, könnte sie möglicherweise heute noch ihrer Arbeit nachgehen. „Schrecklich“, so sagt sie, „war nicht nur der Überfall, sondern vor allem die gemeinen Kommentare meines Chefs im Nachhinein. Stellen Sie sich nicht so an, sagte er, es ist doch gar nichts passiert.“


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